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Universitätsbibliothek Mainz

01.09.2021

Im Kreuzfeuer und zwischen den Fronten: Dolmetschen in Konfliktsituationen

Allianzen, Bündnisse, Partnerschaften fußen auf einem Versprechen: füreinander einzustehen. Im Falle der sogenannten afghanischen Ortskräfte sind diese ihrem Teil der Abmachung über die letzten 20 Jahre nachgekommen. Darunter auch jene Menschen, die seit zwei Jahrzehnten für eine reibungslose Kommunikation zwischen Nato-Truppen und der afghanischen Bevölkerung gesorgt und sich dabei in Lebensgefahr gebracht haben: Dolmetscherinnen und Dolmetscher. Eine Berufsgruppe, die in der Geschichte immer wieder zwischen die Fronten geraten ist – im wahrsten Sinne des Wortes.

Chaotische Bilder, die den Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan zeigen, dominierten in den letzten Wochen die internationale Berichterstattung und sorgten weltweit für Erschütterung. Die afghanische Bevölkerung ist der Herrschaft der Taliban schutzlos ausgeliefert. Insbesondere den afghanischen Sprachmittlerinnen und Sprachmittler droht, nach dem Truppenabzug endgültig zur Zielscheibe der Taliban zu werden. Als Verbündete, Partnerinnen und Partner des Gegners. Und das nicht zum ersten Mal.

„Ortskräfte“ 1945

Sowohl während als auch nach dem Zweiten Weltkrieg spielten Dolmetscherinnen und Dolmetscher eine sehr wichtige Rolle für die unterschiedlichen Kriegsparteien. Die deutsche Wehrmacht bediente sich der Reichsfachschaft für das Dolmetscherwesen (RfD), der Linguisten und einige Universitäten angehörten, um ihren Bedarf an Sprachpersonal zu decken. Rekruten, die eine Fremdsprache beherrschten, wurden in unterschiedliche Kategorien eingeteilt: Beginnend mit der niedrigsten, „grauen“ Stufe für „Sprachkundige“, über die Gelbe der „Übersetzer“ und schließlich die höchste, rote Stufe „Dolmetscher“. Zwar griffen die Nationalsozialisten mit Kriegsbeginn in den besetzten Gebieten fast ausschließlich auf eigenes Dolmetschpersonal zurück, dieses bestand aber nicht ausschließlich aus „Deutschen“, sondern auch aus Diasporagruppen, die sich im Falle von russischen Emigranten beispielsweise neben ihren Sprachkenntnissen auch durch ihre anti-bolschewistische Gesinnung auszeichneten.

Im heißen wie im kalten Krieg

Nach der Kapitulation Deutschlands und der Einrichtung von Besatzungszonen bestand ebenfalls ein erhöhter Bedarf an Sprachmittlerinnen und Sprachmittlern. In der französischen Besatzungszone, in der auch die Uni Mainz (wieder)gegründet und das Dolmetsch-Institut in Germersheim neugegründet wurde, fanden Dolmetscherinnen und Dolmetscher vor allem beim Oberregierungspräsidium Anstellung, das für die Verwaltung der Zone verantwortlich war. Interessanterweise lässt sich trotz der Vielfalt der beruflichen Werdegänge dieses Personals eine Gemeinsamkeit feststellen: Ihr (ehemaliger) Dienst in der französischen Fremdenlegion. Auch wenn es nicht zur expliziten Jobbeschreibung dieses Verbands der französischen Armee gehörte, könnte man die Legion in gewisser Weise als eine Art Dolmetscherschule bezeichnen, deren Absolventen bestens geeignet waren für eine Tätigkeit bei der französischen Militärregierung.

Der Zweite Weltkrieg und die Nachkriegsordnung hatten zur Konsequenz, dass Millionen von Menschen Nationalstaatsgrenzen überwanden. Durch diese Mobilität kamen sie in Kontakt mit Fremdsprachen und anderen Kulturen. Das trifft besonders auf den Kriegsdienst und die Kriegsgefangenschaft zu. Im Bestand des Landesarchivs Speyer sind mehrere Akten verzeichnet, aus denen hervorgeht, dass Dolmetscher, die während der Besatzungszeit tätig waren, sich während des Kriegs beziehungsweise nach Kriegsende entweder in Kriegsgefangenschaft befunden hatten oder im Zuge ihres Wehrmachtdienstes im Ausland stationiert gewesen waren.

Bequem aus einer Kabine oder in geschützten Räumen zu arbeiten, gehört wohl für die meisten Dolmetscherinnen und Dolmetscher zum Berufsalltag. Umso bewundernswerter sind jene unter ihnen, die bereit sind, sich in Gefahrensituationen zu begeben, um die Verständigung zwischen Kriegs- beziehungsweise Konfliktparteien zu ermöglichen. Ein für einen deutschen Offizier arbeitender Dolmetscher illustriert eindrücklich, wie er dabei vor Ort vorging: „Ich übersetze nicht nur Wörter, sondern auch ihr Denken. Da gibt es große Unterschiede. Ich lasse das Gesagte im Kopf durch mein deutsches oder afghanisches kulturelles Raster laufen und produziere Neues daraus. Ich passe auf, dass es keine Missverständnisse gibt.“

Das Dolmetschen in Kriegsgebieten umfasst ein sehr breitgefächertes Tätigkeitsfeld, das nicht nur darin besteht, zwischen den Angehörigen des Militärs der unterschiedlichen Länder zu dolmetschen, sondern ebenso in der Überwachung von Kommunikationskanälen.

Auch im zivilen Bereich wurden in Afghanistan dringend Menschen gebraucht, die sowohl die Amtssprachen Dari und Paschto (man schätzt, dass in Afghanistan mehr als 40 kleinere Sprachen gesprochen werden) und Fremdsprachen beherrschten als auch über das nötige kulturelle Wissen verfügten. Gerade ziviles Engagement und internationale Nichtregierungsorganisationen aller Couleur waren auf diese kulturell-sprachlichen Mediatorinnen und Mediatoren angewiesen. Dabei darf man nicht vergessen, dass diese örtlichen Mitarbeitenden selten professionell vorbereitet beziehungsweise ausgebildet sind und oft ins kalte Wasser geworfen werden.

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Dolmetscherinnen und Dolmetscher sorgten in Afghanistan auch dafür, dass uns Nachrichten aus der Region überhaupt erreichten. Angesichts der Untätigkeit der deutschen Bundesregierung appellierten große deutsche Medienhäuser, Sender und Redaktionen wie Deutsche Welle, Deutschlandradio, Reporter ohne Grenzen, RTL, und Süddeutsche Zeitung in einem offenen Brief, die afghanischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter außer Landes und damit in Sicherheit zu bringen. Das umfasst lokal beschäftigte Journalistinnen und Journalisten ebenso wie Dolmetscherinnen und Dolmetscher. Ohne sie wäre eine Berichterstattung über Afghanistan, seine Menschen, seine Natur über die letzten zwei Jahrzehnte undenkbar beziehungsweise weniger wirklichkeitsnah gewesen.

Welches Risiko die sogenannten Ortskräfte auf sich genommen haben, wird klar, wenn man sich vor Augen führt, dass zu keinem Zeitpunkt des Afghanistaneinsatzes ein vollumfänglicher Regimewechsel stattgefunden hat beziehungsweise in Aussicht stand. Anders gesagt, Dolmetscherinnen und Dolmetscher haben den ausländischen Truppen ihre Dienste angeboten mit dem Wissen, dass die Taliban jederzeit zurückkommen und sie ins Visier nehmen könnten. Ein Szenario, das nun Realität geworden ist.

Ähnlich erging es in den 1930er-Jahren auch den Menschen, die sich bei der französischen Fremdenlegion gemeldet und ihre Sprachkenntnisse auf diesem Weg erworben hatten. Die Nationalsozialisten erließen Gesetze, die die Rechte deutscher Legionäre im Falle ihrer Rückkehr nach Deutschland beschnitten – bis hin zum Verlust der deutschen Staatsbürgerschaft. Der Dienst in der französischen Fremdenlegion reichte den Nationalsozialisten aus, um die deutschen Rückkehrer unter Generalverdacht zu stellen und ihnen Vergehen, wie beispielsweise „Ausspähungsaufträge” für ausländische Nachrichtendienste zu unterstellen. Gleichzeitig waren es genau diese Menschen, die nach der Niederlage Deutschlands als besonders vertrauenswürdig eingeschätzt wurden und ihren Dienst als Dolmetscherinnen und Dolmetscher für die Besatzungsmächte ausübten.

Zwischen den Stühlen

Eine weitere Parallele lässt sich in Bezug auf die Reaktion der Zivilbevölkerungen auf die Dolmetschenden ausmachen: Sowohl im Nachkriegsdeutschland als auch im Falle Afghanistans sahen sich die Sprachmittlerinnen und Sprachmittler auch seitens einiger Teile der Zivilbevölkerung Anfeindungen ausgesetzt. Das liegt daran, dass Dolmetscherinnen und Dolmetscher in Kriegs- und Konfliktkontexten eine Schnittstellenrolle zwischen Örtlichem und Auswärtigem einnehmen und daher sehr ambivalent bewertet werden. Obwohl Objektivität einen sehr wichtigen Teil des Dolmetschens ausmacht, werden die afghanischen beziehungsweise im Krieg tätigen Dolmetschenden zwangsweise als Vertreterinnen und Vertreter der ausländischen Truppen gesehen, für die sie arbeiten. Und natürlich müssen sich die Militärs und NGOs auch darauf verlassen können, dass sich die afghanischen Mitarbeitenden ihnen gegenüber loyal verhalten. Das ist die unabdingbare Basis für gegenseitiges Vertrauen, insbesondere im Zuge von Kampfhandlungen.

Wie fundamental korrekte und genaue Kommunikation und dementsprechend das Dolmetschen in Kriegsgebieten ist, zeigt sich in der Aussage eines US-Majors in der New York Times aus dem Jahr 2009: „Die lokalen Dolmetscherinnen und Dolmetscher sind viel wichtiger als Waffen“. Aus dieser Erkenntnis heraus und mit dem Wissen, dass Ortskräfte nicht nur im Einsatz ihr Leben aufs Spiel setzen, sondern auch nach „Abschluss“ einer Militärintervention gefährdet sind, versprachen die Nato-Truppen in Afghanistan ihren Mitarbeitenden Schutz vor den Taliban, sollten diese wieder die Macht übernehmen.

Mit der Rückeroberung Afghanistans durch die Taliban ist dieser Bündnisfall jetzt eingetreten. Allerhöchste Zeit die sogenannten Ortskräfte als das zu sehen, was sie sind: Verbündete. Die Evakuierung dieser afghanischen Verbündeten ist also nicht als humanitäre vom Wohlwollen der internationalen Koalition abhängigen Geste zu verstehen, sie ist das Mindeste was wir tun können, um unsere Anerkennung für die Arbeit der afghanischen Mitarbeitenden auszudrücken.

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